Meine Gefühle fahren echt Achterbahn!
Morgen werde ich in Santiago de Compostela ankommen, nach gut 600 km und 39 Tagen!
Die Ruhetage herausgerechnet, bin ich täglich ca. 19 km gelaufen mit einem Rucksack, der zwischen 9,5 und 11,5 kg wog (je nachdem, wieviel Wasser, Obst und sonstiges Proviant drin war). Ich musste mich mit (nur) 4 Regentagen arrangieren, aber die hatten es in sich! Da rann mir das Wasser nur so in die Schuhe und der Wind sorgte für horizontale Duschen und Kälte. Meinen tollen, teuren „Hands-free-Regenschirm“ hätte ich eigentlich gleich in Bilbao oder besser noch, zuhause lassen sollen, stattdessen habe ich ihn wirklich bis hierher getragen, das unsinnige Ding! Aber jetzt kommt er wieder mit nach Hause!
Ich habe tolle Leute kennengelernt! Aller Altersgruppen, Herkunft, Sprachen. Alle denkbaren Motivationen und Antreiber. Hier bewahrheitet sich mal wieder mein alter Spruch: schnall‘ dem Menschen einen Rucksack auf den Rücken und schick’ ihn in die Welt. Dann verschwinden alle sprachlichen oder kulturellen Barrieren, Vorurteile, Bewertungen und Rassismus. All dies existiert auf dem Camino nicht, weil uns ein Ziel eint: Laufen, laufen, laufen nach Santiago! Man trägt sich gegenseitig durch schwierige Stunden, ermuntert, lobt, lacht und weint gemeinsam. Alle Menschen sind gleich und eins!
Die Menschen hier, die ich getroffen habe, kommen aus: Deutschland, Niederlande, Frankreich, Belgien, Polen, Österreich, Schweiz, Italien, England, Spanien natürlich, Irland, Rumänien, Island, Süd-Korea, USA, Kanada, Costa-Rica, Brasilien, Chile und Namibia! Wir waren alle offen, neugierig und hilfsbereit, gebend und nehmend.
Ich könnte platzen, vor Freude, Glück und Stolz! Es gab durchaus Tage, nicht wenige, an denen ich nicht geglaubt habe, es zu schaffen. Vor allem, als ich krank wurde und mit Fieber im Hotel lag, wusste ich nicht, wie es weitergehen soll und kann.
Aber auch andere Tage waren wirklich schwierig, wenn ich mit Selbstzweifeln zu kämpfen hatte. Oft entstanden diese durch Vergleiche mit anderen Pilgern. Wenn ich feststellte, dass alle anderen schneller sind als ich. Diejenigen, die langsamer waren, habe ich nicht wahrgenommen… Oder ich konnte meine eigenen Erwartungen nicht erfüllen! Ich wollte nicht nur die geplanten Kilometer schaffen, ich wollte sie auch locker, flockig, ohne Schmerzen, ohne Plagen schaffen. Außerdem wollte ich LowCarb, Vegan und ohne Alkohol auskommen. Ja! Genau! Hat ja prima geklappt!
Auch wenn mein Verstand und andere Pilger sagten, hey, du hast es soweit geschafft! Warum zweifelst du immer noch, dass du es bis zum Ende schaffen kannst?, sagten mein alten negativen Selbstüberzeugungen das Gegenteil. Oder die inneren Stimmen murmelten: „Selbst wenn du es schaffst, sooo eine tolle Leistung ist das nun auch wieder nicht! Nicht mal 20 km am Tag – ist doch nix! Wenn es 30 (35, 38) wären…“ oder „wenn du den ganzen Camino gegangen wärst, ab Irun oder St. Jean, dann wären es die ganzen 800 km gewesen, dann dürftest du stolz sein…“
Fuck off!
Wie immer im Leben, sind es die inneren, negativen und selbstschädigenden Überzeugungen, die uns das alles so schwer machen. Die durch Bemerkungen, die jemand ungefragt platziert, aktiviert werden und die einen tief treffen.
Leute, die schwersten Tage waren die, an denen ich mich von meinen Gedanken habe runterziehen lassen! Da wollte der Körper auch nicht mehr und alles war eine Qual. Ok, auch wenn das Mindset stimmt, heißt es nicht, dass die Füße wie von selbst laufen und alles tipitopi ist. Aber alles wird ein bisschen leichter, wenn der Verstand positiv gestimmt ist und dann das Herzchakra aufleuchtet, weil alles im Einklang ist!
Ganz ehrlich, wer kennt das nicht? In meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich dieses Modell mit so vielen Menschen bearbeitet, auch mit mir selbst. Aber der Camino ist so intensiv, dass das alles wieder hochkommt, Raum und Zeit fordert. Und das hat man ja. Viel Raum und Zeit zum Denken. Ohne Ablenkung, schonungslos, erbarmungslos und deshalb voller Herausforderungen, Chancen und Möglichkeiten.
Ich habe diese Chance genutzt und den alten Dreck hier auf dem Camino gelassen. Die Stimmen sind erst ganz leise geworden, wurden transformiert und rufen jetzt ganz laut: Ja! Du schaffst das! Du kannst alles schaffen! Immer! Für dich!
Ja, und jetzt bin ich kurz vorm Ziel, noch knapp 20 km!
Seit Wochen warte ich auf diesen Tag, träume davon, stelle mir vor, wie es sein wird. Als ankommender Pilger sieht man vom Monte do Gozo, von einem großen Denkmal auf einem Berg die Stadt zum ersten Mal, dann geht man durch die Vororte, am Flughafen vorbei und kommt irgendwann durch eine Gasse auf den großen Platz vor der Kathedrale.
Volker kommt heute Abend nach Santiago, wir sind nur 20 km voneinander entfernt! Er wird also morgen auf dem großen Platz auf mich warten und mich in Empfang nehmen. Ich glaube, dann falle ich weinend in seine Arme! Ich heule ja jetzt schon bei der Vorstellung!
Noch 20 km! So groß die Vorfreude auch ist, ich habe gemischte Gefühle! 5 Wochen lang war ich in einem Paralleluniversum und morgen werde ich wieder ein Stück in die Wirklichkeit zurückgeschleudert. Was ich mir so gewünscht habe, wird Realität!
Und was kommt dann? Mein Körper darf sich noch ein paar Tage in einem Spa-Hotel am Strand erholen, meine Muskeln und Faszien dürfen sich regenerieren und am 8.11. gehts nach Hause.
Was wird dann hier bleiben? Was nehme ich mit? Am liebsten würde ich alles irgendwie konservieren, damit es frisch und klar bleibt.
Am liebsten würde ich euch allen zurufen: „Geh‘ auch den Camino! Und ich geh mit! Dann kannst du es auch erleben und wir können es teilen!“
Nein, dies ist nicht das Ende des Blogs! Ich melde mich in ein paar Tagen und werde berichten, wie es war und wie es ist 😊🕉🕉🕉