Ich habe gelästert: über die verschiedenen Nationen und deren Eigenheiten, die sich anscheinend so sehr von meinen unterscheiden.
Ich habe kritisiert: das Verhalten dieser und jener, das gerade nicht in mein Konzept gepasst hat. Das frühe Herumgeleuchte, wenn ich doch noch schlafen will.
Ich war hochnäsig: dies passt nicht und das passt nicht, Schlafsaal zu groß, Einzelzimmer zu teuer, Essen zu fett, Essen zu schlecht, Wege zu lang, zu viel an der Straße, zu viele Leute und und und.
Ich habe geschimpft: über die Schnarcher im Schlafsaal, die könnten doch auch ein Einzelzimmer nehmen oder auf der Kirchenbank schlafen. Ich erinnere mich an den belgischen Priester, den ich im Geiste aufgefordert habe, sich mit seinem Kollegen in der Kirche einen anzusaufen und gleich dort zu bleiben. Dann würde er uns anderen nicht auf den Wecker gehen mit dem Geschnarche.
Je mehr Kilometer ich hier jedoch zurücklege, desto ruhiger werde ich innerlich. Ich kann mich wieder mehr für andere öffnen, freundlicher sein, und Freude am Unbekannten haben.
Es wird mir mehr und mehr egal, wie sich andere verhalten. Ich nehme es neutral zur Kenntnis, mit einem „Aha“ und vielleicht einem Schmunzeln. Der Gedanke ist nicht, wie anders ist das, wie kann man nur, sondern: wie schön, dass wir so vielfältig sind…
Was soll denn einer machen, der mit Sonnenaufgang schon früh los will? Er muss ja seine Siebensachen packen. Also Ohrenstöpsel rein, umdrehen und durchatmen.
Das Essen hier ist wirklich nichts für mich, aber: so what? Ich versuche, das Beste daraus zu machen…
Das heißt konkret, dass wir uns gerade im Supermarkt für ein schönes, gesundes Picknick eingedeckt haben und das unser Mittagessen in der Sonne ist. Tomaten, Paprika, Guacamole, Brot, Käse, Orangen.
Ich erinnere mich immer daran, warum ich hier bin: mich zu erden, meinen Kopf frei und den Geist klar zu kriegen. Da ist es doch, im großen Kontext betrachtet, ganz egal, wie der Weg beschaffen ist und wie die Umstände sind.
Ich bin nicht hier, weil ich einen All-inklusive-Urlaub gebucht habe und die Leistungen nicht so erfüllt werden, wie im Prospekt versprochen. Es geht hier nicht darum, sich einige Wochen aus der Realität zu beamen, um danach so weiterzumachen, wie zuvor. Mir geht es darum, Stück für Stück mein Mindset nachhaltig ins Positive zu verändern.
Ich fühle mich mehr und mehr mit der Natur verbunden. Tägliches, stundenlanges Gehen tut einfach so gut:
Ich sehe, wie sich langsam die Landschaft verändert, sehe die Wolken ziehen, wie der Wind die unendlichen Weizenfelder, gesäumt von Mohnblumen, ins Wiegen bringt.
Ich höre die Vogelkonzerte, die den ganzen Tag andauern, den Kuckuck über weite Entfernungen rufen, ich höre, wie der Wind in den Bäumen raschelt.
Ich rieche den südländischen Duft der Bäume, die leider auch ein bisschen Heuschnupfen auslösen und die Süße von Raps und anderen Blüten.
Ich gehe durch die gleiche Ebene wie vor 1,5 Jahren und erkenne sie nicht wieder: alles ist grün, im Werden und Entstehen und voller Pracht und Leben!
Ich merke, wie sich mein Nervensystem mehr und mehr beruhigt. Ich empfinde es und kann es an meiner Applewatch ablesen: Belastungs- und Ruhepuls sinken. Wahrscheinlich erhöht sich auch die Herzratenvariabilität, kann ich aber nicht messen. Herzrasen habe ich seit einiger Zeit nicht mehr (zur Info: seit meiner Covid-Infektion habe ich Herzrhythmusstörungen).
Meine Gedanken werden ruhiger, ich selbst gelassener. Klar, mein Fuß sorgt mich sehr, morgen haben wir 25 km vor uns. Ich werde sehen, wie ich es schaffe. Irgendwie geht es schon. Schritt für Schritt. Mit jedem Schritt gebe ich eine bisschen Gereiztheit, Bewertung, Kritik, Selbstkritik, Überheblichkeit an den Weg ab. Vielleicht tut gerade dies ja meinem Fuß auch gut.
Interessant finde ich, dass sich körperliche Erschöpfung nicht als solche ausdrückt, sondern sich als erstes in meiner Stimmung niederschlägt. Das war mir bisher überhaupt nicht bewusst. Dies ist wohl der Grund, dass ich oft meine Grenzen missachte und überschreite.
Nur eine Sache kümmert mich und dafür bitte ich um Entschuldigung:
Mein Sohn hat mir eröffnet, dass ich schnarche! Ich bin entsetzt! Oh nein! Eigentlich sollte ich mal auf der Kirchenbank schlafen und Abbitte leisten. Das hätte ich wohl verdient.