Wenn ich am Nachmittag in die Herberge komme, und meine Dinge erledigt habe, setze ich mich gerne mit einem Radler oder Weißwein in die Cafeteria oder Bar und komme mit anderen Leuten ins Gespräch. Nachdem die Nationalität und damit die Sprache der Unterhaltung geklärt ist, geht es meistens um:
Wo hast du angefangen und wann?
Wie geht es dir denn? Hast du Probleme? Und was machst du dagegen?
Wieviele Kilometer läufst du so pro Tag?
Wann willst du ankommen? (Darauf gibt es nur selten eine Antwort…)
Wann gehst du so morgens los? In der Dunkelheit oder wartest du, bis es hell wird?
Weißt du, ob es hier morgens Kaffee gibt?
Gibts hier ein Pilgeressen?
Manchmal kommen dann noch mehr Leute dazu und es gibt ein buntes, multisprachliches Durcheinander, welches übergeht in ein lautes Abendessen mit einigen Flaschen mit Rotwein, die einfach auf dem Tisch stehen und dazugehören.
Die Franzosen rümpfen dann oft die Nasen über den einfachen spanischen Tafelwein, alle anderen Nationen trinken einfach, ohne viel Fragen zu stellen.
Und dann, auf einmal, früher oder später, beim Salat, beim Nachtisch oder beim vermeintlich letzten Glas wird dann die entscheidende Frage gestellt:
Warum bist du hier, machst du das, pilgerst du? Was sind deine Gründe, deine Motivation?
Dann weiß man, das war doch nicht das letzte Glas, da holt man tief Luft, um zuzuhören oder um selbst zu sprechen.
Und da erfährt man von Menschen, die man gerade mal ein paar Stunden kennt, die Beweggründe für so eine Reise…
Ich habe mittlerweile Menschen getroffen, die, für meine Verhältnisse zumindest, wirklich leiden und trotzdem weitergehen:
Menschen mit blutigen Blasen, mit Blasen einfach überall am Fuß. Sobald sich eine Blase bemerkbar macht, ändert sich die Belastung des Fußes und es entsteht leicht eine neue…
Menschen mit blauen und geschwollenen Knöcheln.
Mit Knieproblemen, die sie nur noch unter größten Schmerzen gehen lassen.
Offene Schienbeine, Wunden, die nach Wundrose oder Blutvergiftung aussehen und die ein Arzt sehen sollte.
Menschen, die sich die Schuhe aufschneiden, damit die geschwollenen Zehen mit den Blasen wieder hineinpassen.
Mit Hexenschuss oder eingeklemmten Nerven im Rücken.
Probleme, mit denen ich längst die Heimreise angetreten hätte.
Warum laufen diese Menschen trotzdem weiter, warum laufen sie überhaupt, und warum laufe ich eigentlich?
Die Gründe sind so vielfältig und vielschichtig wie die Menschen. Viele machen es, weil sie gerade in den Ruhestand gegangen sind und jetzt endlich Zeit haben. Träumten schon lange davon und wollen es endlich machen. Oder eine andere Lebensphase hat begonnen: Eine Firma läuft dank der Angestellten fast von selbst, das Studium ist abgeschlossen, der Arbeitsplatz wird gewechselt und zwischendurch ist Zeit.
Eine Beziehung ist beendet und will verarbeitet werden.
Trauer um geliebte Eltern, Partner oder Kinder soll bewältigt werden. Eine Krankheit wurde überstanden oder erlaubt die Anstrengung noch bevor es Zeit ist, den Körper zu verlassen.
Psychische Leiden führen auf diesen Weg. Ich habe erstaunlich viele Menschen mit PTBS hier getroffen. Ehemalige Soldaten, Opfer von Übergriffen usw.
Manchem ist wichtig, endlich Gott zu danken, für alles und für das eigene Leben. Und für andere ist es eine sportliche Herausforderung.
Die Antworten nach dem Warum sind tief im Herzen zu finden und nur schwer in ein Narrativ zu fügen.
Menschen suchen vermehrt nach einer spirituellen Heimat in einer Welt, die ungewiss erscheint, und in einem Leben, das sich schneller ändert, als es verstanden werden kann.
Mehr als je zuvor sehen sich selbst diejenigen mit innerer Heimatlosigkeit konfrontiert, die eigentlich wohlbeheimatet sind.
Und wenn du wissen willst, was meine Beweggründe sind:
Lass es uns so machen wie die Pilger auf dem Jakobsweg: Ein Essen, eine Flasche Wein, die auf dem Tisch steht, die Zeit für zuhören und selbst sprechen und ein offenes Herz.
Dann wird ein Weg draus.